Der Name Skeireins als Titel für
eine bislang acht
Blätter
umfassende fragmentarische Auslegung des Johannesevangeliums wurde vom
Berliner Germanisten Maßmann vergeben, als er sie Mitte des
19.
Jahrhunderts
erstmalig herausgab:
AU: Hans Ferdinand MASSMANN.
TI: Skeireins aiwaggeljons
þairh
ïohannen,
Auslegung des Evangelii
Johannis in gothischer Sprache.
Aus römischen und
mayländischen
Handschriften nebst lateinischer Uebersetzung,
belegenden Anmerkungen,
geschichtlicher Untersuchung,
gothisch-lateinischem
Wörterbuche
und Schriftproben.
Im
Auftrage Seiner
Königlichen
Hoheit des Kronprinzen Maximilian von Bayern
erlesen, erläutert
und zum ersten Male herausgegeben.
PU: Munich: George Jaquet.
PY: 1834.
LA: German.
BG: o299. (the serial
number in the Bibliographia Gotica)
Das Wort Skeireins ist ein (im 1.
Korintherbrief
[12:10]
belegtes) feminines Nomen actionis zum kausativen Verbum skeirjan
'erklären'; das Adjektiv gleichen Stammes skeirs
bedeutet
'rein',
'lauter', 'klar', 'deutlich' und lebt fort im deutschen schier,
englisch sheer, schwedisch skir,
isländisch skír,
etc.
Die Skeireins erklaert,
erlaeutert
oder verdeutlicht
uns also das
Vierte
Evangelium.
Neben dem gotischen Neuen Testament ist im Corpus
Goticum die
Skeireins das umfangreichste Werk (etwa 3 %).
Trotz ihres gleichfalls kirchlichen Charakters eignet sie sich
für
sprachwissenschaftliche Untersuchungen auch deshalb, weil sie
nachweislich
nicht von Wulfila verfaßt wurde (vide autem hoc).
Nachdem es bislang nicht gelungen ist, die genaue Verfasserschaft
herauszuarbeiten,
konnte Knut Schäferdiek (1981) immerhin darlegen,
daß es
sich
um eine Übersetzung aus dem Griechischen handeln
muß: Die
mutmaßliche
Vorlage besteht aus exegetischen Erläuterungen des
Johannesevangeliums
durch Theodor, den Bischof von Herakleia [heute Marmara-Ereglisi in
Thrakien]
im vierten Jahrhundert.
AU: Knut SCHÄFERDIEK.
TI: Die Fragmente der 'Skeireins' und
der
Johanneskommentar
des Theodor von Herakleia.
PU: Zeitschrift
für deutsches
Altertum
und deutsche Literatur
110/3: 175-193.
(hier187)
PY: 1981. (Reprint 1996 in
'Schwellenzeit', pp.
69-87 [with a survey of errata])
LA: German.
BG: 316.26. (the
serial
number
in the Bibliographia Gotica)
Dieser Zusammenhang war bereits von Maßmann erkannt worden.
Zu der von ihm geprägten Benennung 'skeireins' hat
überdies
beigetragen, daß die
Evangelienkommentare
Theodors
von Theodoret (Historia ecclesiastica II 8) als
'herme:neíai'
bezeichnet werden.
Skeireins
übersetzt also herme:neía
und ist mithin ein Singular.
Die jüngste Ausgabe des eigentlichen Textes, der sich
nunmehr
auf
zwei italienische Bibliotheken verteilt, ist folgende:
AU: Magnús Hreinn SNÆDAL.
TI: A Concordance to Biblical
Gothic.
PU: Reykjavík:
University
of Iceland Press /
Háskólaútgáfan.
PY: 1998.
LA: (English).
BG: 1228.13. (the
serial
number in the Bibliographia Gotica)
Das gotische Textcorpus ist hierbei in einem separaten Band
aufgeführt.
Snædal selbst hat den Skeireinstext allerdings nicht in
Autopsie
genommen,
sondern gemäß Bennetts Lesungen eingegeben, wobei er
jedoch
keine Worttrennungen über die Seiten
zuläßt.
Es wurden im folgenden daher der Zeilenfall und die
Worttrennung
nach Bill Bennett rekonstruiert:
AU: William Holmes BENNETT.
TI: The Gothic commentary on
the Gospel of
John:
skeireins aiwaggeljons
þairh iohannen.
A Decipherment, Edition, and
Translation.
PU: New York: Modern Language
Association.
PY: 1960, 2nd edition 1966
(unaltered)
LA: English.
BG: o307.1. (the serial
number in the Bibliographia Gotica)
Die Arbeit an dieser kritischen
Ausgabe nahm
über ein Jahrzehnt in Anspruch und erfuhr eine entsprechende
Würdigung
durch FRIEDRICHSEN (New
Testament
Studies
9 [1963] 179-180).
Die Geschichte
der Skeireins
ist
zwar nicht so bewegt wie die des Codex
Argenteus, doch bestimmten auch hier gelegentlich sachfremde
Überlegungen
das Schicksal der Handschrift. Es handelt sich hierbei um 8 einzelne
(d.
h. der ursprünglichen Bindung entnommene) beidseitig
beschriebene
Blätter (mithin also 16 Seiten) à 2 Kolumnen (in
der
Zählung
a
/
b
und c / d
überschrieben) zu je 25 Zeilen.
Die im Altertum übliche Palimpsestpraxis führte
späterhin
zur Überschreibung mit lateinischen Texten.
Die jeweilige Thematik dieser kirchengeschichtlich relevanten Texte
war es dann auch, die im frühen 17. Jh. eine Trennung des
Corpus
zeitigte:
Ursprünglich im (um 600 von Columban d. J.
gegründeten)
Kloster
Bobbio (an der Trébbia in Ligurien) gesammelt, lagern heute
5
Blätter
in Mailand und 3 in Rom.
200 Jahre nach der Archivierung stieß der spätere
Mailänder
Bibliotheksleiter Monsignore Angelo Mai auf den gotischen Text und
ermittelte
den Verbleib der übrigen 3 Blätter. Wahrscheinlich,
um
Verblichenes
wieder sichtbar zu machen, überzog er alle 8 Blätter
mit
einer
Lösung aus Galläpfeln (Wucherungen an Eichen, die
durch eine
bestimmte Wespenart hervorgerufen werden und den Farbstoff Tannin
enthalten)
und bewirkte damit das genaue Gegenteil, nämlich das
Verschmieren
bis hin zur Unkenntlichkeit. Dieser Umstand in Verbindung mit dem
persönlichen
Ehrgeiz (um nicht zu sagen: eitlen Wahn), die gotischen Texte als
erster
veröffentlichen zu wollen, führte zum erbitterten
Streit vor
allem mit dem Mediävisten Maßmann, der auf
Geheiß des
Kronprinzen von Bayern mit einer Delegation nach Mailand gekommen war,
um die Texte zu entziffern und zu edieren. Die genauen
Umstände,
die
ihm dort widerfuhren, hat Maßmann in seiner o. g. Ausgabe
derart
bildhaft geschildert, daß allein diese Beschreibung es wert
ist,
das Werk einmal einzusehen (nicht zuletzt auch wegen der
handgefertigten
Faksimilia).
Die Reihenfolge jener Seiten ergibt sich aus den eingebundenen Zitaten
des Johannesevangeliums. Diese Zitate entsprechen somit dem Text
des Codex Argenteus. Hochgerechnet auf das ganze Vierte
Evangelium,
ergibt sich ein möglicher Gesamtumfang des Kommentars von
knapp
500
Seiten. Ob das Werk allerdings in diesem Sinne je zu Ende gebracht
wurde,
ist unbekannt - ebenso, ob weitere Seiten erhalten sind, ohne
vielleicht
als solche erkannt worden zu sein.
Die Thematik
Das III. Kapitel des Johannesevangeliums beginnt mit dem
Dialog
zwischen
Jesus und Nikodemus, einem Mitglied des Sanhedrins (Hohen Rates) und
mithin
einem exponierten Vertreter des Judentums. Er sucht Jesus das erste Mal
am späten Abend auf. Man erklärt dies einerseits mit
der
Befürchtung,
von den Juden gesehen zu werden (im Schutze der Dunkelheit),
andererseits
mit der nötigen Muße für ein langes und
ernsthaftes
Gespräch
(Nacht-Ruhe).
Die nachfolgend
aufgeführten
Verse entstammen (da an dieser Stelle noch keine Textkritik
betrieben
werden soll)
der revidierten
Luther-Übersetzung:
1 Es
war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus,
einer
von den Oberen der Juden.
2 Der
kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, du bist
ein Lehrer, von Gott gekommen;
denn
niemand kann die Zeichen
tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm.
3 Jesus
antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir:
Es
sei denn, daß jemand
von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.
4
Nikodemus
spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist?
Kann
er denn wieder in seiner
Mutter Leib gehen und geboren werden?
5 Jesus
antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir:
Es
sei denn, daß jemand
geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich
Gottes
kommen.
6 Was
vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren
ist,
das ist Geist.
7
Wundere
dich nicht, daß ich dir gesagt habe: Ihr
müßt von
neuem
geboren werden.
8 Der
Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen
wohl; aber
du
weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt.
So
ist es bei jedem, der aus
dem Geist geboren ist.
9
Nikodemus antwortete und sprach zu ihm: Wie kann dies geschehen?
10 Jesus
antwortete und sprach zu ihm: Bist du Israels Lehrer und
weißt
das
nicht?
11 Wahrlich,
wahrlich, ich sage dir: Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was
wir
gesehen haben;
ihr aber nehmt unser
Zeugnis nicht an.
12 Glaubt
ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage, wie werdet ihr
glauben,
wenn ich euch von
himmlischen
Dingen sage?
13 Und
niemand
ist gen Himmel aufgefahren außer dem, der vom Himmel
herabgekommen
ist, nämlich der Menschensohn.
14 Und wie
Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat [siehe
Numeri 21,8],
so muß der
Menschensohn
erhöht werden,
15 damit
alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.
Es folgt das
Herzstück
des Johannesevangeliums,
wobei nicht klar
ist, ob es sich um Jesus´ eigene Worte handelt oder aber die
Erklärung
durch den Evangelisten:
16 Denn also
hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn
gab,
damit alle, die an ihn
glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.
17 Denn Gott
hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt,
daß
er die Welt richte, sondern
daß die Welt
durch
ihn gerettet werde.
18 Wer an
ihn glaubt, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist
schon
gerichtet,
denn er glaubt nicht
an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes.
19 Das ist
aber das Gericht, daß das Licht in die Welt gekommen ist,
und die Menschen liebten
die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse.
20 Wer
Böses
tut, der haßt das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit
seine
Werke nicht aufgedeckt werden.
21 Wer aber
die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar wird,
daß
seine Werke in Gott getan sind.
Etwa 2½ Jahre
später zeigten sich
die Früchte dieses Gesprächs: Während des
Laubhüttenfestes
schickten die Pharisäer Beamte, um sich Jesus´ zu
bemächtigen.
Als jene ohne ihn zurückkehrten, sprachen sie gut von Jesus,
was
die
Kollegen mit Spott quittierten, woraufhin Nikodemus freimütig
unter
Hinweis auf das Gesetz für Jesus eintrat:
"Läßt
es unser Gesetz denn zu, daß wir jemanden verurteilen, ohne
daß
wir ihn zu dem Vorwurf gehört haben?
Zunächst
muß doch in Erfahrung
gebracht werden, ob er sich etwas hat zuschulden kommen lassen!"(7,51
- eigene Übertragung)
Die Reaktion blieb nicht aus: "Bist
du etwa auch aus Galiläa?",
was im
Prinzip
nichts anderes heißt als:
'Aha - du
solidarisierst
dich also mit ihm, statt dich unserer Meinung anzuschließen!'
(7,52a - eigene Übertragung)
Nach dem Tode Jesu
bekannte sich Nikodemus
dann auch öffentlich zu ihm, indem er zu
dessen
standesgemäßem
Begräbnis beitrug (19,39f.). Die außerbiblische
Überlieferung
weiß zu berichten, daß Nikodemus später
Christ wurde,
daher seines Amtes enthoben und aus Jerusalem verbannt wurde,
schließlich
sogar den Märtyrertod erlitt.
© Christian T. Petersen (zugeeignet Werner Winter) back